Eine schlanke, anonyme Befragung kann ein belastbares Stimmungsbild für Wissensmanagement‑Verantwortliche liefern: wie in der Organisation mit Wissen umgegangen wird und wo wissensförderliche Rahmenbedingungen fehlen bzw. gezielt ausgebaut werden sollten. Sie schafft eine gemeinsame Ausgangsbasis für Entscheidungen im Wissensmanagement, priorisiert Handlungsfelder und macht auch Stimmen hörbar, die sich im Alltag selten zu Wort melden. So wird das häufig diffuse Thema Wissensmanagement messbar, anschlussfähig und über die Zeit vergleichbar.
Orientierungsrahmen
Für die inhaltliche Abdeckung empfehle ich das Wissensgarten-Modell nach Gabriele Vollmar als Orientierungsraster. Es dient hierbei als Abdeckungs‑Check und hilft bei der Konstruktion der Fragen/Aussagen, alle relevanten Bereiche im Wissensmanagement mitzudenken, damit keine blinden Flecken entstehen.
- Organisation & Prozesse (wissensorientierte Abläufe, Rollen, Übergaben/Reflexionen)
- Strategie (Ausrichtung, Wissensziele, Nutzen)
- Mensch (Fähigkeiten, Freiräume, Unterstützung)
- Kultur (gelebte Werte & Praktiken)
- Infrastruktur (digitale & physische Arbeitsumgebung)
Fragebogen
Form der Items (Items = die einzelnen Fragen/Aussagen im Fragebogen): Verwende Aussagen statt Fragen (siehe Beispiele unter „Trennschärfe“). Nutze eine 4‑ oder 6‑stufige Zustimmungsskala von „Stimme überhaupt nicht zu“ bis „Stimme vollständig zu“, um einen neutralen Mittelpunkt – wie bei 3‑ oder 5‑stufigen Skalen – zu vermeiden. Das reduziert Ausweichantworten und erzwingt eine klare Richtung der Einschätzung. Beschrifte alle Stufen (keine reinen Endpunkt‑Labels) und setze „Keine Einschätzung möglich“ nur dort ein, wo es sachlich nicht beurteilbar sein könnte (z. B. kein Kontakt zum Thema), damit es nicht zum Ersatz‑Neutralpunkt wird.
Umfang: Plane insgesamt 10-20 Aussagen und decke jeden Wissensmanagement‑Bereich (siehe Wissensgarten-Modell) mit mindestens zwei Items ab.
Wiederholbarkeit: Formuliere zeitstabil (bspw. ohne IT-Tool‑ oder Methodennamen), damit sich Ergebnisse über die Zeit direkt vergleichen lassen; gleiches Wording und dieselbe Skala sichern die Vergleichbarkeit (Ziel: belastbare Wiederholungen nach 2 bis 4 Jahren).
Trennschärfe: nur eine Dimension pro Aussage. Gemeint ist der eine inhaltliche Aspekt, den eine Frage/Aussage misst. Vermeide doppelte Dimensionen („Doppelfragen“) und bleib pro Item bei einem Gedankengang.
Don’t: „Ich fühle mich bei Veränderungen angemessen informiert und eingebunden.“ (zwei Dimensionen: informiert und eingebunden → trennen)
Beispiel‑Aussagen je Wissensmanagement-Bereich:
- Strategie: „Mir sind die Ziele des Wissensmanagements in unserer Organisation bekannt.“
- Mensch: „Während der Arbeitszeit habe ich die Freiheit, eigenständig Wissen zu arbeitsbezogenen Themen zu vertiefen (z. B. Artikel, Videos, Podcasts).“
- Kultur: „Ich habe das Gefühl, alles fragen zu können, ohne verbal oder nonverbal verurteilt oder bewertet zu werden.“
- Infrastruktur: „Die natürlichen Begegnungsräume (z. B. Tee-/Kaffeeküchen, Flure, Atrium) laden zum Austausch mit Kolleg*innen ein.“
- Organisation & Prozesse: „Führungskräfte achten darauf, dass beim Ausscheiden von Kolleg*innen deren Wissen gesichert bzw. weitergegeben wird.“
Validierung der Fragen/Aussagen
Eine Validierung ist wichtig, da Begriffe je nach Bezugsrahmen unterschiedlich verstanden bzw. unterschiedlich geläufig sind. Fragen/Aussagen rufen je nach Kontext andere Beispiele, Situationen und Assoziationen hervor. Eine kurze Validierung deckt Missverständnisse, Mehrdeutigkeiten und Fachjargon auf und stellt sicher, dass Items tatsächlich das messen, was sie messen sollen.
Empfohlene Methode: Think‑Aloud
- Setting: 1:1‑Gespräch (erfahrungsgemäß ca. 20–40 Min. bei 10–15 Items), freiwillige Tester*innen aus verschiedenen Bereichen.
- Start: Ziel und Vorgehen kurz erklären; Testperson explizit instruieren, beim Lesen alle Gedanken/Assoziationen auszusprechen und unbekannte/unklare Wörter zu benennen; Erwartungshaltung anhand eines kurzen Beispiels vormachen.
- Ablauf: Testperson liest jede Frage/Aussage laut zum ersten Mal und verbalisiert. Du musst das nicht bei jedem Item aktiv abfragen; bei Bedarf gezielt nachhaken: „Woran denkst du bei XY?“, „Welche Situation/Beispiel hast du hierbei im Kopf?“. Achte darauf, ob Passagen oder einzelne Wörter doppelt gelesen werden, das sind Hinweise auf holprige Stellen.
- Dokumentation: Notiere Assoziationen, genannte Beispiele, Stolperstellen, unklare Begriffe, Re‑Reads, abweichende Deutungen, markiere die betreffenden Formulierungen.
Nachdem die Gespräche abgeschlossen sind, werden die Protokolle analysiert und die Items entsprechend überarbeitet.
Durchführung
- Gremien früh einbinden: Betriebs-/Personalrat und (sofern vorhanden) Datenschutz.
- Anonymität sichern: Die Befragung ist strikt anonym. Keine personenbezogenen Merkmale erfassen, IP-/Login-Tracking und E‑Mail‑Logs im Tool deaktivieren. Anonymität ist die Grundlage für ehrliches Feedback und den Schutz der Mitarbeitenden.
- Optional: Segmentierung (Abteilung/Standort/Rolle): Wenn du zusätzliche Merkmale abfragst, achte strikt auf Anonymität. Faustregel: Frage ein Segmentmerkmal nicht ab, wenn eine der daraus entstehenden Gruppen ≤ 5 Personen umfasst; wähle dann eine gröbere Einheit (z. B. Abteilung). Die Gremien sollten diese Schwelle mitprüfen.
- Laufzeit & Reminder: Üblich sind ~2 Wochen; Reminder zu Start, Mitte, 1–2 Tage vor Schluss. Danach Danke & Ausblick („Wann kommt die Auswertung?“).
Auswertung/Maßnahmen
- Antwortoptionen nummerieren: Weise den sechs Antwortoptionen konsistent Zahlen zu (1 = „Stimme vollständig zu“ … 6 = „Stimme überhaupt nicht zu“ – oder umgekehrt; Hauptsache einheitlich).
- Median bilden: Je Item den Median berechnen. Warum Median? Kurz: Es ist eine Ordinalskala; der Durchschnitt setzt gleiche Abstände voraus und ist hier weniger geeignet.
- Schwellen & Priorisierung: Ich empfehle spätestens zu handeln, wenn der Median „Stimme eher nicht zu“ (oder schlechterem) entspricht. Bei knapper Kapazität zuerst Items mit schlechterem Ergebnis adressieren. Wenn insgesamt gute Werte vorliegen, können auch Items mit Median „stimme eher zu“ durch Maßnahmen adressiert werden.
- Nächster Schritt: Auf Basis der auffälligen Items Maßnahmen ableiten (siehe Beispiel unten) und Verantwortlichkeiten/Zeitfenster festlegen.
Beispiel-Maßnahme aus der Praxis:
- Befund: Niedrige Zustimmung zur Aussage „Nach abgeschlossenen Ereignissen reflektieren wir …“ im Marketing-Team.
- Analyse: Events wurden nicht als Projekte gezählt – daher keine Reflexion (Lessons Learned).
- Maßnahme: Lessons Learned auch nach internen Events eingeführt. Verantwortlich: Teamleitung Marketing. Zwei Upskilling‑Termine mit dem Projekt-Team, erste Retrospektive begleitet, danach eigenständig.
Ergebnisse transparent teilen: Veröffentliche die Ergebnisse zeitnah intern (Vorstellung im Idealfall mit Q&A), benenne klar die folgenden Maßnahmen inklusive Verantwortlichkeiten und Zeithorizont und halte den Fortschritt sichtbar.
Wiederholung: Halte Kern‑Items konstant, dokumentiere Versionierungen und prüfe abhängig vom Maßnahmenfortschritt nach 2 bis 4 Jahren eine Wiederholung, um Entwicklungen im Zeitverlauf zu sehen.
Fazit
Eine anonyme, schlanke Befragung macht Wissensmanagement greifbar: Sie zeigt, wie in der Organisation mit Wissen umgegangen wird und wo wissensförderliche Rahmenbedingungen fehlen oder ausgebaut werden sollten. Der Wissensgarten hilft, alle Bereiche abzudecken; sauber formulierte und validierte Fragen/Aussagen mit 4‑/6‑stufiger Skala (ohne Neutralpunkt) liefern belastbare Daten. Wichtig sind transparente Ergebnisrückmeldung, klare Maßnahmen mit Verantwortlichkeiten und eine Wiederholung nach 2 bis 4 Jahren. So wird aus dem Stimmungsbild ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess.
Titelbild von Canva.